Tief religiös, intolerant und allgemein konservativ - das sind die Attribute, die man derzeit in den deutschen Medien mit unseren Nachbarn in Polen in Verbindung bringt. Und tatsächlich trifft das auf viele Regionen und Bevölkerungsteile zu. Denjenigen, die in der letzten Woche die Stadt Katowice im Süden des Landes besucht haben, präsentierte sich allerdings ein vollkommen anderes Polen. Denn in kaum einem anderen Land in Europa findet man mehr Begeisterung für eSport, als hier. Von Intoleranz ist dort nichts zu sehen. Menschen aus aller Herren Länder kehren in der Stadt ein und verstehen sich sofort, denn trotz aller Verschiedenheiten in Sprache oder Aussehen verbindet sie über kulturelle Grenzen hinweg eine gemeinsame Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die kaum in einem größeren Kontrast zu dieser Dreifaltigkeit der Werte stehen könnte.
Aufbruch in eine neue Zeit
Hunderte Menschen warteten teilweise stundenlang in der Kälte auf den ersehnten Einlass in die Spodek Arena. Sie gehören zu den unglücklichen Fans, die zuvor keine der Premium Tickets ergattern konnten. Die waren innerhalb kurzer Zeit ausverkauft, garantierten sie doch einen schnellen Zugang zum Event und die besten Sitzplätze in der Arena. Die durchaus ansehnlichen Preise hinderten niemanden daran, zuzugreifen: In den Augen der Käufer waren diese Pässe jeden Cent - oder Groszy - wert, den sie dafür bezahlt hatten. Die Intel Extreme Masters boten natürlich nicht nur die eSport-Wettkämpfe, die sie berühmt gemacht haben. Wie mittlerweile bei einem Großteil der eSport-Events üblich, begleitete eine kleine Messe die Turniere, auf der die Sponsoren ihre Waren anpreisen konnten. Spodek selbst ist dafür mittlerweile viel zu klein, weshalb man auch das neue Kongresszentrum neben der Arena nutzte. Hier waren die Messe und drei eSport-Stages zu finden, auf denen Starcraft 2, Rainbow Six: Siege, League of Legends und Heroes of the Storm gespielt wurden. Counter Strike erhielt am meisten Raum in der großen Arena, Starcraft 2 und League of Legends dürfen erst in den späteren Runden das Stadion als Bühne nutzen. Und wie immer, wenn der eSport zu Gast in Polen ist, war die Atmosphäre großartig.
Starcraft hat eine lange Tradition in Polen - immer vertreten durch die Netwars.pl-Community. (Foto: Marco Wutz)
Zusätzlich boten die IEM für die polnischen Besucher ein weiteres Highlight an: Es wurde ein großes Treffen der Youtube-Stars des Landes arrangiert, vergleichbar mit ähnlichen Events hierzulande, etwa auf der gamescom. Dies erklärt auch die hohe Anzahl junger Besucher in Spodek, immerhin sprechen die bekanntesten Youtuber ja auch in Deutschland eine vorwiegend junge Zielgruppe an. Einer der faszinierenden Anblicke, der sich den Besuchern bot, war die Zahl der jungen Besucher in Counter Strike-Trikots. Die Lokalmatadoren - wenn man das im eSport so sagen kann - waren hierbei natürlich Virtus Pro. Wo man auch hinsah, überall leuchtete das Orange der VP-Trikots auf, stolz wurde der brüllende Bär getragen. Unbeteiligte Autofahrer, die an der Arena vorbeifuhren, mussten wohl denken, dass es sich um ein Heimspiel irgendeiner Sportmannschaft aus Katowice handelte. Die Jungs von Virtus Pro waren sowieso in der ganzen Stadt omnipräsent: Die gigantischen Werbeplakate für die IEM nutzten ganz bewusst die Beliebtheit des Teams und zierten sich mit Bildern der Spieler. Hier wird eine ganze Generation an den eSport herangeführt.
Nach konservativen Werten suchte man übrigens ebenfalls vergeblich: Vorwiegend weibliche Cosplayer zeigten ihre größtenteils knappen Kostüme mit Stolz und posierten für Fotos. Sie widerstanden tapfer der Kälte und ihre knallbunten Haarfarben erleuchteten das triste Wetter Polens. Auch waren sehr viele Paare unterwegs - und nicht nur die männlichen Hälften waren dabei in Trikots gekleidet oder trugen Fanartikel. Die Demographie dieses Events war in der Tat hochinteressant: Zwar prägen erwartungsgemäß junge Männer das Bild, doch der Anteil an Frauen und vor allem Kindern war doch deutlich höher, als bei vorherigen Veranstaltungen. Selbst das eine oder andere Paar an Senioren schlenderte sichtbar fasziniert durch die Gänge.
Freundschaft und Verbundenheit gibt es im eSport auf allen Ebenen: Unter den Fans und auch unter den Persönlichkeiten. (Foto: Marco Wutz)
Lebenselixier eSport
Was die Bevölkerung von Katowice auch vom eSport halten mag, man merkte den Leuten ganz klar an, dass man die wirtschaftlichen Vorteile der IEM für die Region erkannt hat. So wusste der Taxifahrer, der mich vom gut 30 Kilometer entfernten Flughafen Pyrzowice nach Katowice brachte, zwar nicht darüber Bescheid, was genau in der Arena in den nächsten Tagen passieren würde. Doch war er anscheinend gut darauf vorbereitet gewesen, mir den Weg vom Hotel zur Arena zu erklären und allerlei andere nützliche Tipps zu geben. Alleine die ESL buchte Plätze in mindestens drei Hotels, um Spieler und Personal unterzubringen - dazu kommen hunderte Fans und die Presse. Letztere Gruppe war so stark vertreten, dass das Pressezentrum des Events aus allen Nähten platzte. Namen wie der deutsche Sender Sport 1 oder das britische Sky Sport waren vor Ort.
Einen konservativen Wert konnte man wohl doch in abgeänderter Form finden: Zusammenhalt - über kulturelle Grenzen hinaus. (Foto: Marco Wutz)
Katowice selbst ist ein weiterer dieser Gegensätze: Die mittelalterlich-neuzeitliche Altstadt könnte man genau so gut irgendwo in Deutschland finden, während sowjetische waschbetongraue Plattenbausiedlungen und Industriegebäude Katowice wie eine Mauer umgeben. Nichts davon ist sonderlich modern und doch feiert man hier seit Jahren ein stetig wachsendes eSport-Festival, inmitten dieses düsteren Walls. Das farbige Pulsieren der Spodek Arena, der Herzschlag einer neuen Ära, verleiht dieser Hülle Leben. Internationale Berichterstattung, Besucher und Profi-Spieler bringen Farbe und Vitalität nach Katowice.
Dass auch die Stadt diese Chance erkennt, sah man an mehreren Punkten: Zum Einen war sie selbst mit zwei Ständen auf der Messe vertreten, um sich den zahlreichen Menschen aus aller Welt zu präsentieren. Und zum Anderen versucht man zu vermeiden, ein Opfer des eigenen Erfolgs zu werden: Logistisch stieß das Event schon an seine Grenzen, spätestens in zwei Jahren müsste man sich vonseiten der ESL nach einem anderen Veranstaltungsort umsehen, wenn das Wachstum so weitergeht. Die Stadt hat bereits reagiert, schon jetzt existiert eine Baustelle neben der Arena und dem Kongresszentrum, um das Areal zukunftsfähig zu machen. Man hat erkannt, dass man mit jetzigem Investment in der eSport-Industrie dauerhaft Fuß fassen kann - einer globalen, toleranten und modernen Industrie, in der Katowice sich einen festen Platz erarbeitet. Dies wird auch früher oder später die Bevölkerung der Stadt prägen und als Beispiel für viele Orte weltweit dienen.
Es ist ganz einfache Physik: Wenn gegensätzliche Kräfte aufeinandertreffen erzeugen sie Energie. Und Energie bringt große Dinge ins Rollen.
Durchgangsstation oder eSportmetropole? Wie seht ihr die Zukunft von Katowice?
Quelle Titelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Katowice_Spodek-_Nowa_elewacja.jpg